Vom Hang-Hinkel
Überall auf der Welt haben sich Tiere und Pflanzen extremen Umweltbedingungen angepasst und atemberaubende Strategien entwickelt, um zu überleben. In der Wüste, in der Arktis oder im Dschungel trotzen sie den Herausforderungen ihrer Umgebung. Sie heißen Skorpion oder Pfeilgift-Frosch und an der Bergstraße trifft man – wenn auch selten – das Hang-Hinkel.
Es ist schon ein seltener Vogel. Nur wenige haben ihn gesehen und noch weniger haben ihn bereits gegessen – trotzdem ist er in aller Munde. Die Rede ist vom Bergsträßer Hang-Hinkel. Wann und wo es zum ersten Mal gesichtet wurde ist unklar, doch scheint es bereits geraume Zeit bekannt zu sein und verzehrt zu werden. Deutlich macht das ein überlieferter volkstümlicher Reim, der aber auch nicht eine gewisse Ambivalenz hinsichtlich der Existenz des geflügelten Leckerbissens verbirgt:
Hang-Hinkel ist ein Vogeltier,
Das schmeckt sehr gut zu Wein und Bier.
Ein Bein ist kurz, das andere lang,
Gewachsen für den schrägen Hang.
Doch klappt das nur in eine Richtung.
Echt wahr! Oder doch nur Dichtung?
Unbekannter Verfasser (schämt sich vermutlich)
Linguistischer Exkurs: Hinkel ist der südwest-deutsche Ausdruck für das Huhn. Das männliche Huhn – der Hahn – nennt sich hier Gickel. Wir sprechen also über Hang-Hinkel und Hang-Gickel, wobei sich Schreibweise und Aussprache von Dorf zu Dorf durchaus genauso unterscheiden können wie die Zubereitung.
Wissenswertes vom Hinkel
Das Hang-Hinkel ist ein ausgebüxter Verwandter des gewöhnlichen Haushuhns (Gallus gallus domesticus) und gehört somit zur Familie der Fasanenartigen (Phasianidae). Landwirtschaftlich zählt man es zum Geflügel, wenn es sich denn mal zählen lässt.
Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein Huhn. Doch im Unterschied zum Haushuhn zeichnet sich das Hang-Hinkel nicht durch zwei gleich lange Hühnerbeine aus, sondern durch ein langes und ein kurzes. Diese physiologische Besonderheit haben die flugunfähigen Vögel nach ihrer Flucht entwickelt, um besser entlang der Hänge an der Bergstraße wandern und picken zu können. Und da man Vertreter der Art mit kurzem linken Bein ebenso beobachtet hat wie mit kurzem rechten Bein, vermuten einige Koryphäen auf dem Gebiet der Hang-Hinkel-Forschung, dass einst einige Hinkel nach Norden und andere nach Süden verduftet sind.
Ansonsten tobt in der Hang-Hinkel-Forschung ein erbitterter Kampf unter den beteiligten Biologen. Denn niemand weiß bisher oder kann beweisen, wann und wo das Hang-Hinkel ausgebüxt ist und ob sich anschließend ein Bein zurückentwickelt hat oder eins im Wachstum vorgeprescht ist.
Der Vollständigkeit halber sei hier noch angemerkt sei, dass man dem Hang-Hinkel vermutlich nicht nur an der Bergstraße begegnen kann und auch, dass die asymmetrische Bebeinung anderer Lebewesen wohl häufiger vorkommt – beispielsweise an den Deichen Ostfrieslands.
Jagd und Verzehr
Der Verzehr des Hang-Hinkels gestaltet sich aus vielerlei Hinsicht problematisch. Es beginnt mit der Habhaftwerdung der putzigen Gesellen. Die ist nicht gerade gefährlich, nur eben schwierig.
Denn obwohl das gemeine Haushuhn und damit auch das Hang-Hinkel, der nächste noch lebende Verwandte des T-Rex ist, sind im Gegensatz zu den anderen genannten Überlebenskünstlern Skorpion und Pfeilgift-Frosch unsere kleinen gefiederten Freunde ebenso harmlos wie auch lecker. Verständlicherweise legen die drolligen Gesellen deshalb eine gewisse Scheu an den Tag und das Federvieh verduftet flink flatternd, sobald man sich ihm nähert.
Aber erfahrene Hang-Hinkel-Jäger kennen einen Trick, sie in die Pfanne zu hauen. Sofern sie eins entdecken, stellen sie sich ihm einfach in den Weg. Vom Fluchtimpuls getrieben wird es dann Opfer der eigenen Überlebensstrategie. Der Vogel wendet blitzartig um einhundertachtzig Grad, um sein Heil in der Flucht zu suchen. Doch nach der Wende hängt das kurze Hühnerbein funktionslos in der Luft. Und weil das Hinkel das nicht bedacht hat, verliert das etwas einfältige Tier zuerst sein Gleichgewicht und dann seine Freiheit.
Nach der Gefangennahme lässt sich das Hang-Hinkel zwar ungern aber doch so einfach wie ein Haushuhn zubereiten. Erst beim Servieren ist wieder einiges Geschick erforderlich – diesmal diplomatisches. Denn sonst entbrennt am Tisch ein erbitterter von Futterneid verursachter Streit um die größere der beiden Keulen.
Die Zubereitung des Hang-Hinkels
„Dös Hinkel liebt den Woi,“ sagt Küchenmeister Keylock, einheimischer Engländer, und verrät ein passendes Rezept für vier Hang-Hinkel-Jäger. Ihr braucht:
- 1 küchenfertiges Hang-Hinkel (oder ein „normales Huhn aus nachhaltiger Haltung“)
- 4 Zwiebeln
- 3-5 Karotten
- ½ Lauch
- ¼ Knollensellerie
- 1 Knoblauchzehe
- 1 ELTomatenmark
- 2 Flaschen trockenen Bergsträßer Rotwein, mindestens
(z.B. Dakapo von Hanno Rothweiler aus Bensheim-Auerbach oder Umstädter Dornfelder von der Odenwälder Winzergenossenschaft aus Groß-Umstadt) - 1 ½ l Geflügel- oder Gemüsefond (am besten selbstgemacht)
- 6 schwarze Pfefferkörner
- 2 Lorbeerblätter
- 1 Sternanis
- 2 Thymian-Zweige
- Salz, Pfeffer
- neutrales Öl zum Braten
Und so geht es: Am Vorabend mariniert ihr euer küchenfertiges Hang-Hinkel. Dazu spült ihr es gründlich ab, tupft es trocken und löst dann Brüste und Keulen aus. Die Keulen teilt ihr noch im Gelenk und gebt alle Teile in ein tiefes Gefäß. Die übrig gebliebene Karkasse werft ihr nicht weg, sondern zerhackt sie in kleine Stücke und legt sie in Frischhaltefolie in den Kühlschrank – die braucht ihr noch für den Schmoransatz.
Dann putzt ihr das Gemüse und schneidet Zwiebeln, Karotten, Lauch und Sellerie in gleichgroße Würfel von etwa einem Zentimeter, den Knoblauch halbiert ihr einfach. Gebt den Gemüsemix zum Fleisch, übergießt alles mit einer Flasche Wein und lasst es für rund zwölf Stunden im Kühlschrank marinieren.
Bevor es dann weitergeht, fischt ihr Fleisch und Gemüse wieder aus dem Wein und lasst alles gut abtropfen abgetropft werden. Den Wein stellt ihr beiseite.
Würzt die Hinkel-Teile mit grobem Salz und bratet sie in einem Bräter mit ein wenig Öl rundum an. Wenn sie eine kräftige Farbe entwickelt haben, nehmt ihr sie heraus. Legt stattdessen die klein gehackte Karkasse des Hinkels, die ihr ja nicht weggeworfen habt, in den Bräter und bräunt sie so lange bis sie ebenso dunkel ist wie das Fleisch. Für etwa zehn Minuten röstet ihr dann darin den abgetropften Gemüsemix, fachlich Mirepoix genannt, bis alles gut gebräunt ist. Gebt das Tomatenmark dazu und lasst es bei kleiner Temperatur für etwa 5 Minuten mitrösten (Vorsicht, brennt leicht an). Dabei verliert es den intensiven Geschmack und entwickelt eine feinere Note.
Diesen Röstansatz löscht ihr jetzt mit dem Rotwein aus der Marinade ab und kocht alles ein bis eine dicke Masse entsteht. Die füllt ihr mit Geflügel- bzw. Gemüsefond auf, gebt Pfefferkörner, Lorbeer, Sternanis, Thymian dazu und verteilt die angebratenen Keulen im Sud – und nur die Keulen.
Schiebt dann den Bräter in den vorgeheizten Ofen und gart das Fleisch bis es weich ist. Das dauert circa fünfundzwanzig Minuten bei 160°. Achtung: Das längere Bein des Hang-Hinkels könnte auf Grund des höheren Fleischanteils etwa 5 Minuten länger benötigen. Zehn Minuten vor Ende der platziert ihr die beiden angebratenen Brüste auf einem Gitter und gart sie im Ofen fertig.
Wenn das Fleisch fertig gegart ist, schaltet ihr den Ofen aus, lasst Brüste und Keulen auf dem Gitter im Ofen ruhen und widmet euch der Soße. Dazu befördert ihr den Fond aus dem Bräter durch ein feines Sieb in einen Topf und reduziert die Flüssigkeit bei mittlerer Hitze auf die Hälfte. Zuletzt opfert ihr noch einen guten Schluck von der zweiten Flasche Wein, um die Soße zu verfeinern. Mit etwas Stärke bindet ihr sie dann ab und probiert, ob noch etwas Salz und Pfeffer fehlen.
Dazu serviert ihr Bamberger Hörnchen mit Rosmarin und Meersalz und Gemüse – beides einfach auf dem Backblech im Ofen mitgegart. Und nicht vergessen: Dös Hinkel liebt den Woi.
Quellen der Inspiration: Je eine Flasche 2014er Dakapo von Hanno Rothweiler aus Bensheim-Auerbach und 2009er Umstädter Dornfelder von der Odenwälder Winzergenossenschaft aus Groß-Umstadt
Wir danken den IllustratorInnen Marina Gots, Gigi Ickler und Jens Rotzsche. Das Titelbild ist eine Eigenproduktion. Wilhelm Busch bitten wir um Entschuldigung, nicht jedoch ohne ihn abschließend noch einmal zu Wort kommen zu lassen.
(Beim Schreiben gehört: das Album „Suzuki“ von Tosca)
Danke für den Bericht! Und ich dachte immer, das seien verletzte Tiere und habe mich schon über deren große Zahl an den Hängen des Odenwalds gewundert.