In der Herrnmühle
Im ländlichen Südhessen brauchten die Bauern früher nicht unbedingt Bäcker, um ihr Brot zu backen, aber Müller, die ihr Getreide dafür zu Mehl mahlten. Also zog sich ein Netz von Mühlen durch die Region, die ihre Energie zum Mahlen aus der Kraft des Wassers gewannen. Heute – im Zeitalter riesiger Industriemühlen und Einheitsgetreide – hat es sich aber fast überall an Modau und Gersprenz ausgeklippklappt. Fast. Eine der letzten Wassermühlen ihrer Art wird am Mergbach, einem der Quellflüsse der Gersprenz, von der Familie Feick betrieben. Es ist die Herrnmühle in Reichelsheim.
Das Mühlensterben ist nun wahrlich nichts Neues. Schon während meiner Kindheit, die bereits ein gerüttelt Maß an Zeit zurück liegt, gab mir das Lied „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ Rätsel auf. Wassermühlen kannte ich nur im Maßstab 1:87 von Faller oder aus dem Märchenbuch. Desto spannender ist es, mal eine zu besuchen. Also los.
Und dann … mehr als eine Mühle
Wenn du von Norden auf der B 38 nach Reichelsheim kommst fällt dir sicher ein langgezogenes senfgelbes Gebäude auf der rechten Seite auf. Das ist die Herrnmühle. Das erkennst du sofort, weil es dran steht. Aber ob du das Gebäude auf den ersten Blick als Wassermühle identifizierst ist eine ganz andere Geschichte. Denn nicht nur der Name prangt in Braun auf Senfgelb, sondern auch das breitgefächerte Angebot eines irgendwie besonderen Geschäftes, einer Art ländlichen Supermarktes. Da ist die Rede von Mehl und Naturkost, Futtermitteln und Gartenbedarf aber auch von Heimtierbedarf und Zoohandlung.
Draußen steht es dran und innen findest du es. Das alles und noch viel mehr. Und es riecht nach Getreide, Dünger und Tierfutter, wenn du dich durch die engen Gänge des Mühlenladens arbeitest. In unzähligen Regalen, vollgepackt bis unter die Decke, gibt es viel zu entdecken oder wiederzuentdecken.
Du findest hier Produkte, von denen du eigentlich glaubtest, es gäbe sie nicht mehr. Oder welche, von denen du noch nie gehört hast. In Verpackungen, die ein Designerherz lächeln lassen. Du bewegst dich zwischen Mehl zum Backen – natürlich aus der eigenen Mühle – und scheinbar Kuriosem, wie dem vitalisierenden Pferde-Gel zum Einreiben, aber eben nicht zum Einreiben von Pferden. Einen ersten Eindruck von alldem vermittelt übrigens auch schon der Besuch des hauseigenen Webshops.
Ein echtes Familienunternehmen
Schließlich landen wir an der Kasse und stellen uns an. Für einen Morgen an einem Wochentag ist hier ordentlich was los. Wir stellen uns brav an, bis wir dran sind. Dann erklären wir uns und werden ins Büro vorgelassen. Dort ist nicht nur alles voller Papiere, Aktenordner und Schreibtischen, sondern auch voller Feicks. Wir werden mittendrin zwischen Müllermeister Harald Feick und Sohn Rainer platziert, der auch Müller ist – das nennt sich heute aber Verfahrenstechniker in der Mühlen- und Futtermittelwirtschaft.
Insgesamt schaffen hier drei Generationen der Familie. Vater und Sohn haben wir ja bereits vorgestellt. Mutter Ute, Tochter Claudia und Schwiegertochter Selina arbeiten im Verkauf, Vertrieb und im Büro. Großmutter Olga hat sich aus dem Laden zurückgezogen, kocht aber für alle und selbst Großvater Philipp mit über achtzig kann es noch nicht lassen. Sechs weitere Mitarbeiter komplettieren dann ein durchaus beachtliches Mühlenteam.
Vater und Sohn erzählen
Wie gesagt: Wir sitzen mitten drin, hören zu und fragen nach. Unsere Köpfe schwingen munter von links nach rechts und wieder zurück, damit uns bloß nichts davon entgeht, was Harald und Rainer Feick so ganz entspannt zum Besten geben. Sie halten sich auch gar nicht lange mit Vorreden auf und kommen schnell zur Sache.
Von der Mühle allein könne vielleicht eine Familie leben, sagen sie. Aber niemals drei Generationen. Deshalb entstand in den Achtzigern die Idee, den Mühlenladen zu betreiben. Das war zuerst nur ein Raum mit einigen Regalen neben dem Büro, dann kam Gartenbedarf dazu und seit der Jahrtausendwende ergänzt die Heimtierabteilung das Angebot.
Die Produktpalette entstand nach und nach aus dem, was man selbst produzierte und dann auch immer als Reaktion auf Nachfragen von Kunden. Und so hielten Waren Einzug in die Regale, die man im modernen Supermarkt einfach nicht mehr findet oder noch nie finden konnte.
Sie fahren damit fort, dass gegenwärtig die Sparte Lebensmittel am stärksten wächst. Die Leute interessieren sich eben immer mehr für das, was sie essen. Das war früher nicht so.
Und die Kunden … die Kunden kommen nicht nur aus der Nähe. Das sind auch Leute aus Mannheim oder Frankfurt. Die verbinden ihren Einkauf in der Mühle gern mit einer Wanderung und einem Besuch eines Gasthofs im Odenwald. Für die ist ja auch der Onlineshop und natürlich besonders für die, die hier weggezogen sind.
Und außerdem …
Bevor wir dann doch zur Mühle kommen – zum Betrieb gehört auch eine kleine Landwirtschaft und ein Versuchsmaisfeld. Das ist so eine Art Open-Air-Showroom für Saatgut. Hier werden Maissorten verschiedener Erzeuger angepflanzt (insgesamt über zwanzig Sorten) und Landwirte können sich dann während einer Feldbegehung die Sorte aussuchen, die ihren Zwecken am besten entspricht.
Und dann ist da noch das „Nibelungenkorn“. Das sind die alten Getreidearten Emmer, Einkorn und Dinkel, die hier in Zusammenarbeit mit Landwirten und Bäckern der Region nachhaltig und umweltschonend angebaut und verarbeitet werden – mit dem Ziel, die regionale Wertschöpfung zu erhöhen, Gewässer zu schützen und die Artenvielfalt zu fördern. Regionaler Fair-Trade in Bio-Qualität fängt hier eben vor der eigenen Haustür an. Und das unter Einsatz eines Minimums an Pflanzenschutz und Düngemittel (dieses Thema werden wir in Zukunft sicher noch vertiefen).
Die Getreidemühle mit Wasserantrieb
Betrittst du als Nichtsahnender – so wie wir – den alten Teil der Mühle, landest du in der Kulisse eines alten Stummfilms, nur das es hier verdammt laut ist. Du stehst mitten in der Maschine, die ein verrückter Wissenschaftler gebaut hat, um die Weltherrschaft zu erlangen. Alles dreht sich, zappelt, schwingt. Flache Textilriemen übersetzen sirrend rotierende Räder unterschiedlicher Größe, bewegen alles und lassen hölzerne Quader monolithischen Ausmaßes tanzen. Und dazwischen huscht der Müller unter schrägen Balken durch und steile, krumme Treppen hoch. Kontrolliert, füllt nach und ab und heißt ausnahmsweise nicht Feick, sondern Vetter. Geht doch.
Doch zurück zu den Balken, die teilweise noch aus dem Jahre 1513 stammen. Also rund zwanzig Jahre nach der Entdeckung Amerikas und etwa einhundert Jahre vor den drei Musketieren nahm die Herrnmühle ihren Betrieb auf. Sie ist damit die älteste Mühle in der näheren Umgebung und gehörte wie so einiges in der Gegend den Grafen von Erbach. 1867 ging dann die Herrnmühle in den Besitz der Familie Feick über. Adlige Geldnot soll der Grund gewesen sein, doch belassen wir das im Dunkel einer vergangenen Zeit.
Unabhängig von den Besitzverhältnissen nutzt die Getreidemühle die eigentlich kostenlose und emissionsfreie Energie des Wassers. Früher wurde einen Tag angestaut, um genug Wasserkraft zu erzeugen und danach einen Tag gemahlen. Heute erzeugt eine Turbine Strom für eine konstante Laufgeschwindigkeit. Und reicht das Wasser nicht aus, dann wird mit Strom ergänzt.
Vom Getreide zum Mehl
Das Getreide wird im Hof hinter der Mühle angeliefert, gewogen und geprüft. Dabei wird die Feuchtigkeit festgestellt, um die Bildung von Schimmel beim Lagern zu vermeiden und es wird die sogenannte Fallzahl ermittelt. Sie gibt an, ob sich das spätere Mehl zum Brotbacken oder eher als Futtermittel eignet. Entsprechend wird der Einkaufspreis definiert.
Auf dem Hof können fünfhundert Tonnen Getreide in Silos gelagert werden und weitere vierhundert Tonnen können in der Lagerhalle auf die weitere Verarbeitung warten.
In der Mühle wandert das Getreide zur Verarbeitung von unten nach oben zu den jeweiligen Maschinen, um schließlich von ganz oben als fertiges Mehl durch Röhren wieder nach unten zu rieseln. Dabei werden Drehgeschwindigkeiten und -richtungen der nötigen Maschinen durch die erwähnten Riemen gesteuert.
Es geht eine krumme Holzstiege hoch zu den weinroten Walzenstühlen. In diesen Maschinen drehen sich Walzen mit verschieden geschliffenen Oberflächen gegeneinander. Dabei wird das Korn zuerst kleingeschnitten und dann wird das Mehl aus den Stücken herausgepresst. Anschließend wird das Mahlgut über eine Transportschnecke zwei Stockwerke höher in den Plansichter befördert. Also ab nach oben.
Der Plansichter der Herrnmühle besteht aus zwei gigantischen hölzernen Kästen, die nebeneinander auf Sockeln stehend horizontal kreisen, bedrohlich mit viel Lärm kreisen. In den Kästen befindet sich ein System aus dreizehn übereinander befindlichen Sieben – oben ist das gröbste Sieb, unten das feinste. Das Mehl wird also während des Siebens, der Müller spricht hier von der „Sichtung“, nach unten hin immer feiner. Was noch zu grob ist, muss noch einmal in die Walzenstühle. Die anderen Mahlstufen kombiniert der Müller in einem für uns wirren Labyrinth aus Rohren und Ventilen zum gewünschten Ergebnis und füllt es in Säcke ab. Und wie das Mehl verlassen wir den Plansichter und machen uns an den Abstieg.
Bleibt die Frage: Wer bezahlt den Müller?
Früher war der Müller im Prinzip ein Dienstleister. Bezahlt haben diejenigen, die ihr Getreide zum Mahlen gebracht haben. Und das waren die Bauern. Heute ist das die Ausnahme. Größere Landwirte verfüttern ihr Getreide und auch kleinere backen nicht mehr selbst. In der Herrnmühle lassen nur noch zwei Direktvermarkter mahlen. Einer davon ist Siggi Ochsenschläger aus Biblis, der das selbst angebaute Getreide in Reichelsheim mahlen lässt und anschließend das daraus gewonnene Mehl im eigenen Laden anbietet.
Der Dienstleister ist also zum Produktionsbetrieb geworden. Das heißt der Müller kauft Getreide an, stellt Mehl daraus her und bietet es an. In der Herrnmühle beziehen Bäcker im Umkreis von etwa dreißig Kilometern ihr Mehl. Dazu kommen noch Gastronomie und Privatkunden.
Was bringt die Zukunft?
Rainer Feick sagt, dass eh schon etwa achtzig Prozent der Gesamtmenge Mehl in Deutschland von nur zehn Prozent der Mühlen produziert werden. Zusätzlich macht das Sterben des Bäckerhandwerks zu schaffen, denn die Back-Shops mit ihren Filialen kaufen billig bei den Großen.
Ein viel bedrohlicheres, weil unmittelbareres Problem ist die Umsetzung der Europäischen Wasserrahmenrichtline (WRRL). Teil dieser Richtlinien ist, dass Fischen wieder das Erreichen der oberen Gewässerläufe ermöglicht werden soll. Im konkreten Fall würde das bedeuten, das eine Fischtreppe gebaut werden müsste. Kosten: 200.000 Euro – ein Betrag, den die Familie Feick nicht aufbringen kann.
Unter dem Siegel des Umweltschutzes könnte der Herrnmühle in Reichelsheim im wahrsten Sinne des Wortes so das Wasser abgegraben werden. Einer Mühle, die seit 1513 nachhaltig, umweltschonend, emissionsfrei hochwertige Lebensmittel erzeugt und sich mit dem Projekt „Nibelungenkorn“ einer ebensolchen Zukunft verschreibt. Da bleibt mir nur der Satz aus den alten Gespenstergeschichten, den ich ja schon häufiger verwendet habe. Seltsam? Aber so steht es geschrieben.
So, damit endet unser Besuch in der Herrnmühle. Auserzählt und leergeschrieben klappe ich mein Notebook zu. Aber wenn du glaubst, du weißt jetzt alles über den Familienbetrieb der Familie Feick in und an der Herrnmühle in Reichelsheim, dann sage ich nur: Hast du ’ne Ahnung.
Fotografie: Thomas Hobein
(Beim Schreiben u.a. gehört: Den Song White Winter Hymnal von den Fleet Foxes)
Hilfe! Ich habe den Link auf Facebook mit meinem IPhone geöffnet und keinen Hinweis auf euren Shop gefunden.
Hi, das liegt daran, dass wir auch keinen Shop haben – also noch nicht. Aber hier der Link zum Shop der Herrnmühle: http://www.herrnmuehle.com/online-shop/
Gruß aus der Redaktion