Lesefutter
Was passiert, wenn so richtig eingefleischte Städter aufs Land ziehen? Und wie sinnvoll ist es wirklich, die Fackel für jeden Bio- und Nachhaltigkeits-Trend vor sich herzutragen? Ein Comic und ein Essay aus meinem Regal setzen sich mit jeweils einem dieser Themen auseinander – beides keine Neuerscheinungen, aber beides aktuell, gut zu lesen und mit vielen Bildern. Traut euch ran. Ihr schafft das – auch ohne zu Leseratten oder Bücherwürmern zu mutieren.
Wenn der Novembernebel ums Haus kriecht und sich durch alle Ritzen drängt, der Regen wütend gegen die Scheiben trommelt oder Schneematsch an kalte Füße denken lässt, kann man auch mal was lesen. Echt. Besonders, wenn es gut ist. Und sollte euch das Wetter ein Schnippchen schlagen und versuchen, euch durch blauen Himmel nach draußen zu locken – Bücher funktionieren wetterunabhängig.
Also schlage ich – passionierter Allwetter-Leser – euch hier mal wieder Selbstgelesenes vor, das mir Spaß bereitet hat und bestens in meinen Blog passt.
Wer von euch ohne Sünde ist, werfe das erste Quinoabällchen
Das MaroHeft #1 mit dem Titel Wer von euch ohne Sünde ist, werfe das erste Quinoabällchen
beinhaltet ein Essay von Jörn Schulz mit Illustrationen von Marcus Gruber. Inhaltlich räumt der Autor mit der „Macht der Verbraucher“ auf sowie mit missionarischen Nachhaltigkeits-Eiferern der Mittelschicht. Seine These lautet, nachhaltiges Konsumverhalten einzelner rettet nicht das Klima sondern den Kapitalismus. Und ertappt?
Aber vorab vielleicht noch ein Wort zu den MaroHeften. Sie sind sozusagen die Reinkarnation, der von mir sehr verehrten „Tollen Hefte“, die 2018 nach fünfzig Ausgaben eingestellt wurden. Diese Hefte vereinten Texte und Illustration miteinander und waren aufwendig produziert. Die ersten Ausgaben der Reihe erschienen Anfang der Neunziger im Augsburger Maro Verlag und anlässlich des 50. Verlagsjubiläums entschied man sich dort, mit den MaroHefte die Idee der Vorgängerserie wieder aufzunehmen.
Nun endlich zum – für einige – heftigen Heft
Wir sind umgeben von Parolen, die jeden einzelnen von uns auffordern, gefälligst die Welt zu retten. Denn wir – du und ich – hätten es in der Hand. Wir sollen kein Fleisch mehr essen, regional einkaufen und Plastik vermeiden. Alles richtig. Mache ich – äh, versuche – ich auch. Und werde das auch weiterhin tun. Doch was bewirkt all das in seiner Gesamtheit tatsächlich? Vielleicht fördert es sogar das Gegenteil der propagierten Ziele. Damit beschäftigt sich diese Streitschrift von Jörn Schulz.
Er berichtet von bigotten Unternehmern, instrumentalisierten Angestellten, Solidaritätsverlust unter Arbeitnehmern, einer Klimakonferenz, zu der 1500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit einem Privatjet flogen (Davos 2020) und vielem mehr. Und er beleuchtet auch die tatsächlichen Ursachen des Klimawandels.
All das erledigt er in einer saftigen, unverschwurbelten Sprache, die kein vorheriges Studium verlangt sondern nur ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit. Bringt man die auf, wird man beim Lesen mit augenöffnenden Fakten belohnt. So erfährt man beispielsweise, dass lediglich 100 Unternehmen für 71 Prozent der Treibhausemmissionen verantwortlich sind (Zeitraum 1988 bis 2015). Dabei müssen die Top-Vier – alles Konzerne, die mit fossilen Brennstoffen ihre Geschäfte machen – allein nahezu 25 Prozent auf ihre Kappe nehmen. An anderer Stelle zitiert er die Forderungen nach einer zukunftsfähigen Welt. Den dort wiedergegebenen Worten nach könnte man auf Greta Thunberg tippen, tatsächlich aber handelt es sich um die Rede eines Zwölfjährigen auf einer UN-Konferenz im Jahr 1992.
Wer nun denkt, bei dem Autor handelt es sich um einen unverbesserlich pessimistischen Motzkopp, den muss ich enttäuschen. Er fordert eigentlich nur, sich nicht durch die Tricks der Verursacher ablenken zu lassen und eine echte Bestandaufnahme vorzunehmen, die zu wirksamen Maßnahmen führt. Und er sieht auch positive Entwicklungen, wie die Bewegung Fridays for Future oder dass inzwischen etwa 42 Prozent des Stroms in Deutschland durch erneuerbare Energien erzeugt werden. Aber er beharrt eben auch darauf, dass nur die Veränderung des kapitalistischen Wirtschaftssystems das Klima retten kann – durch kollektives Handeln und nicht durch selbstverliebtes Vor-sich-hin-Bosseln.
Illustrativ begleitet der Berliner Marcus Gruber diesen Text mit fünffarbigen Druckgraphiken. Plakativ setzt er Ursachen und Begleiterscheinungen des Klimawandels in Szene und – so der Maro Verlag – verwandelt den Essay in ein aberwitziges und käufliches Bilderbuch.
Mein Fazit
Ich kann vieles aus dem Text sehr gut nachvollziehen und finde auch so einiges wieder, dass ich selbst seit Jahren denke und verbreite. Zum Beispiel ist mir völlig klar, dass die Forderung nach Biokost und nachhaltigem Konsum völlig an den Mittellosen vorbeigeht. Aber selbst wenn man Jörn Schulz nicht folgen will und andere, eigene Schlüsse zieht, hat man hier etwas in der Hand, das zum Denken verführt. Und allein das hilft in einer Zeit, in der alle meinen, labern und posten schon ein ganzes Stück weiter.
Die Rückkehr auf Land
Comiczeichner Manu und Freundin Mariette haben die Nase voll von der Stadt. Also verlassen sie die Großstadt und ziehen auf Land. In einem idyllischen Dörfchen finden sie ihr Zuhause, aber auch gefährlich giftigen Fingerhut und eine Ruhe, die Manu anfangs einfach fertig macht. Und sie treffen die Landbevölkerung, die sich schon verwundert zeigt, dass Fremde hier bei ihnen leben wollen. „Jeder muss wissen, was er tut“, sagt eine argwöhnisch wirkende Alte. Und mehrmals wird Manu gefragt, ob sie sogar über den Winter bleiben wollen. Als er das bejaht, erinnern sich die Einheimischen an drei Engländer, lachen sich dabei eins ins Fäustchen und lassen den traumatisierten Künstler unwissend zurück. Dazu macht er Erfahrungen mit dem Selbstgebrannten vom Nachbarn und (un)freiwilligen Einsätzen im Rahmen der Dorfgemeinschaft oder als Illustrator für das Plakat zum alljährlichen Schweinefest. Aber er stellt auch fest, dass hier Brot nach Brot riecht und schmeckt und dass man sich gegenseitig um sich kümmert.
Über die Reihe
Bisher sind drei Bände des Comics Die Rückkehr auf Land im Berliner Reprodukt Verlag erschienen, in denen es humorvoll menschelt, wenn Raver auf Bauern treffen, der Punk Manu bemerkt, dass seine neuen Songs plötzlich nach John Denver klingen und seine Freundin nicht so richtig begeistert ist, wenn er von der schönen Bäckerin erzählt.
Gezeichnet werden die Geschichten von Manu Larcenet, von dem auch die grandiose Serie Der alltägliche Kampf (einer meiner Alltime-Favourits) stammt. Den Text erledigt der aktuelle Asterix-Szenarist Jean-Yves Ferri, den ich hier besser finde als in seinen Galliergeschichten.
Larcenet hatte die Idee zu dieser Serie über sein eigenes Leben auf dem Land. Doch statt die Geschichten selbst zu texten, schlug er Ferri vor das Szenario zu schreiben, dass er dann in einer für ihn untypischen Weise wieder selbst illustriert. Das klingt kompliziert und ist es auch. Selbst Manus Freundin Mariette kapiert die Vorgehensweise nicht, wie man im ersten Band erfährt, doch irgendwie funktioniert es grandios und macht einen Riesenspaß.
Mein Vorschlag
Die Bände sind als repräsentative,querformatige Hardcover erschienen, die am besten in der richtigen Reihenfolge gelesen werden sollten. Denn die auf jeweils eine Seite angelegten Gags bauen aufeinander auf. So lernt man gemeinsam mit Mariette und Manu nach und nach das schräge Ensemble aus Land- und Stadtbevölkerung kennen und erkundet gemeinsam mit ihnen diese Welt auf dem Land aus der man gar nicht mehr so richtig weg will.
So, hier noch einige bibliographische Anmerkungen. Alle Publikationen sind im Buchhandel erhältlich.
Wer von euch ohne Sünde ist, werfe das erste Quinoabällchen (MaroHeft 1)
Von Jörn Schulz (Autor) und Marcus Gruber (Illustrationen)
Die Broschüre mit 36 Seiten ist im Maro Verlag, Augsburg, erschienen und kostet 18,00 Euro
Die Rückkehr auf Land
Von Jean-Yves Ferri (Szenario) und Manu Larcenet (Zeichner)
Die Bände 1-3 mit je 192 Seiten sind als gebundene Hardcover im Reprodukt Verlag, Berlin, erschienen und kosten je 24,00 Euro
(Beim Lesen natürlich nix gehört. Wenn ich lese, dann lese ich)