Zarte Pflänzchen voll auf Draht
Fast ein Jahr lang haben wir im Auerbacher Fürstenlager den Winzer Hanno Rothweiler bei der Neuanlage von zwei Rebflächen begleitet. Zeitweise waren wir mehrmals pro Woche vor Ort, um die Fortschritte zu beobachten, kennenzulernen und zu dokumentieren, manchmal einen ganzen Monat gar nicht. Jetzt ruht die Vegetation im Weinberg. Zeit, darüber zu berichten, was wir erlebt und gelernt haben.
Der Boden ist bereitet, die Reben sind gepflanzt (siehe Folge 1), doch keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran. Bei Hanno Rothweiler im Auerbacher Fürstenlager. Oberhalb von Bensheim.
Rahmenhandlungen
Während der April zu Ende geht, ist bereits T-Shirt-Wetter an der Bergstraße und die Architektur der beiden Weingärten soll nun ihre endgültige Form annehmen. Dazu kommen keine Maschinen mehr zum Einsatz. Jetzt wird Hand angelegt. Der Drahtrahmen, an dem später der Wein „erzogen“ werden soll, wird aufgebaut.
Durch die Reberziehung im Drahtrahmen kontrolliert der Winzer über das gesamte Jahr das Wachstum des Weines, gibt die Wachstumsrichtung und -höhe vor und definiert auch die Lesehöhe der Trauben einheitlich. Dazu wird ein System aus Weinbergspfählen und Drähten entlang der bereits gepflanzten Rebreihe – auch Zeile genannt – aufgestellt. Die Drähte unterstützen die Ranken der Kletterpflanze im Sinne des Winzers. Dabei variieren die Höhe der Drähte und die Abstände der Pfähle je nach Anbauregion, Rebsorte und Winzer. Die hier beschriebene Drahtrahmenerziehung ist die inzwischen am häufigsten angewandte, auch weil sie die maschinelle Lese mit einem Vollernter möglich macht – es gibt aber auch andere Methoden Reben in der gewünschten Weise zu erziehen.
Hanno Rothweiler und sein Team setzen die stählernen Stickel, also die Weinbergspfähle, innerhalb der Reihe mit einem Abstand von vier Metern fünfzig. Zwischen diesen senkrecht in die Erde getriebenen Reihenpfählen finden immer vier Rebstöcke Platz. Anfang und Ende jeder Reihe markiert je ein nach außen geneigter Endstickel. Zwischen dem letzten Reihenpfahl und dem Endpfahl steht immer noch ein Rebstock.
Ausgerichtet, schön in Reih’ und Glied
Soweit der Plan. Und jetzt zur Praxis. Die beginnt in der Mitte der äußeren Reihe. Dazu zählt Reinhard die Reben gemäß Plan ab – wie beschrieben im Vierer-Rhythmus (plus Eins für das Ende). An der gefundenen Position treibt er den Stickel senkrecht in den Boden. Der Boden im Wingert ist weich genug, um ihn zuerst ins Erdreich zu drücken, senkrecht auszurichten und dann mit der Pfahlramme etwa sechzig Zentimeter in die Erde zu treiben. Über dem Boden hat der Stickel eine Höhe von einem Meter achtzig.
Das Gleiche passiert dann auf der gegenüberliegenden äußeren Reihe. Zwischen diesen beiden „Müttern aller Stickel“ spannen Hanno und Reinhard dann eine Schnur quer über den Wingert und ermitteln so die Position der mittleren Reihenpfähle für die dazwischenliegenden Reihen.
Es folgen die äußeren Stickel der Reihen nach gleicher Vorgehensweise. Dann wird aufgefüllt bis alle Stickel stehen. Senkrecht in Reih’ und Glied. Über zweihundert Stück. In zwei Weingärten. Gesetzt durch Muskelkraft. Hut ab, sage ich – so am Schreibtisch sitzend.
Ein schräges Ende auf allen Seiten
Es folgen die nach außen geneigten Endpfähle. Die sind etwas dicker als die Reihenstickel und auch etwas länger. Anschließend werden sie mit einem Draht nach außen gespannt, der im Boden verankert wird. Die Reihenstickel, die Endpfähle und der Spanndraht bilden dabei eine präzise gerade Linie.
Zur Aufnahme der Drähte im Boden bohrt Reinhard Erdanker in den Boden. Es gibt welche für steinige Böden und welche für erdige Böden. An steinigen Stellen schlägt er mit einem Hammer ein Ankerrohr durch eine Montageplatte so tief in die Erde, bis die Platte fest aufliegt. Danach treibt er einen Bolzen in das Rohr, der die im Inneren befindlichen Widerhaken in den Boden schiebt, wo sie sich festkrallen. Dann entfernt er schließlich Montageplatte und Treibbolzen. Sichtbar zurück bleibt eine Metallöse zur Befestigung des Spanndrahtes.
Dort, wo der Boden aus festem Erdreich besteht, drehen die Männer des Weinguts von Hand sogenannte Stabanker, die riesigen Schrauben gleichen, tief in den Weinberg. Und das die sich wehren – davon erzählen so einige angestrengte Flüche, die diese schweißtreibende Arbeit begleiten.
Schließlich werden Anker und Endpfähle mit einem dicken Draht (2,5 bis 3,2 mm Durchmesser) fest verspannt.
Abschließend werden entlang der Reihen die Drähte von Stickel zu Stickel gezogen und fest mit den Endpfählen verspannt. Sie geben den nötigen Gegenzug zu den Ankerdrähten. Unten der Bindedraht, dann der Draht (Biegedraht), über den später die Fruchtruten gebogen werden. Darüber folgen zwei bewegliche Drahtpaare, die der durch sie hindurch wachsenden Laubwand nach oben den nötigen Halt geben und bei Wind vor Bruch schützen sollen.
Dann ist der Drahtrahmen fertig und so mancher Kilometer Draht durchzieht die beiden Neuanlagen. Es kann gewachsen werden, lieber Wein. Es kann gewachsen werden. Und dabei unterstützen Pflanzpfähle aus Metall die jungen Reben.
Vom Maigrün im Weinberg
Im Mai zeigt der Rebnachwuchs dann schon deutlich seinen Willen zu wachsen und zu gedeihen. Die Reben bilden erste Sprossen und Blätter. Ein gutes Zeichen. Aber leider auch für das Wild vor Ort. Um die Rehe und ihre Kollegen abzuhalten wird die Neuanlage komplett umzäunt oder einzelne Reben mit einem blauen Rebschützer, auch Rebhöschen genannt, überzogen.
Zeit zur Bodenpflege
Im Juni macht der Winzer dann den Reben das Leben leichter. Um sie herum lockert er den Boden auf und entfernt gleichzeitig unerwünschte Unkräuter. Das erledigt er von Hand mit einer Hacke. Vorsichtig. Die jungen Reben sind empfindlich.
Ja, sind die groß geworden
Ende September schauen wir wieder im Weinberg vorbei. In der Nachbarschaft geben die Rebstöcke bereits mit prallen Trauben an und wollen bald gelesen werden. Unsere juvenilen Pflanzen pubertieren vor sich hin, schießen hoch, wollen für voll genommen werden, tragen aber noch nichts. Doch es steht außer Frage – ihnen gehört die Zukunft.
Und dann … dann ist Winter. Die Vegetation ruht. Mal sehen, wie es weitergeht. Im Auerbacher Fürstenlager. Mit Syrah und Auxerrois. Wir bleiben dran.
Fotografiert hat Thomas Hobein u.a. mit der Kamera von Dirk Hoppmann/Freisicht.
(Beim Schreiben gehört: „American Recordings“ von Johnny Cash)
Auch interessant: Alles auf Anfang– wie ein Wingert entsteht (Folge 1)