800 Bäume, 60 Sorten, 2 Aktivisten
Seit 2009 widmen sich Ellen Müller und Rainer Stadler mit Begeisterung und nicht nachlassender Energie der Quitte. Alles begann damals sozusagen aus Neugier mit zwei Quittenbäumen auf eigenem Grund. Daraus entwickelte sich das Quittenprojekt Bergstraße. Jetzt, im Herbst 2019 steht wieder eine Erweiterung des Baumbestandes an. Dann bewirtschaften die beiden „Quittisten“ rund 800 Bäume verschiedener Sorten in und um Sulzbach herum, dem nördlichsten Ortsteil von Weinheim an der Bergstraße. Und das ist längst nicht alles, was sie tun. Hier der Abschluss meines zweiteiligen Berichtes.
Bevor wir einsteigen: Im ersten Teil des Berichtes findet ihr so ziemlich alles rund um die Quitte. Hier geht es um das Quittenprojekt Bergstraße und die zwei Überzeugungstäter – Krankenschwester Ellen Müller und Industriemeister Rainer Stadler. Und jetzt ab an die badische Bergstraße.
Mitte Oktober. Weinheim-Sulzbach in der frühherbstlichen Mittags-Sonne. Eigentlich ist Regen angekündigt und Rainer Stadler hatte mir noch gemailt, dass ich Gummistiefel mitbringen sollte. Das Wetter zeigt sich aber von seiner besten Seite und die Stiefel habe ich sowieso vergessen. Manchmal gehört eben auch etwas Glück dazu.
Ich stehe in der engen Hintergasse vor einem rotbraunen Hoftor und klingele. Ellen Müller öffnet mir. Wir stellen uns kurz gegenseitig vor und fahren dann in ihrem Wagen in Richtung Westen aus Sulzbach heraus. Unterwegs erfahre ich, dass die Mannheimerin Krankenschwester war und auf Wohnungssuche in Sulzbach gestrandet ist – auf dem Hof von Rainer Stadler. Der hat sie dann sicherlich infiziert, so quittenmäßig, denke ich.
Inmitten von Quitten
Wir überqueren die Bahnlinie Darmstadt-Heidelberg und verlassen schon bald nach rechts auf einem Feldweg die Straße. Noch ein zwei Haken im flachen Gelände, dann stehen wir am Anfang eines langestreckten Grundstücks voller Quitten. Und wenn ich sage voll, dann meine ich nicht nur die Anzahl der Bäume, sondern auch Menge an Früchten pro Baum. Die sind teilweise so überladen, dass sich die Äste durch das Gewicht der Quitten biegen.
Zwischen den Bäumen sind überall mit goldgelben Quitten prall gefüllte Steigen verteilt und mittendrin verlädt Rainer Stadler seine frisch eingekistete Ernte auf den Hänger seines Treckers. (wie gesagt: Alles über die Quitte findet ihr im ersten Teil des Berichtes). Nach dem Händeschütteln zeigt er auf einen Garten, der durch einen Acker von unserem Standort inmitten der Quitten getrennt wird. Dort drüben, auf dem von seinen Eltern geerbten Grundstück, hat alles mit zwei Bäumen begonnen. Das Grundstück auf dem wir jetzt gerade stehen, ist gepachtet und inzwischen nur Teil des langsam, aber stetig wachsenden Quitten-Projektes, das sich hier inzwischen wie ein dichter werdender Flickenteppich durch die Landschaft zieht.
Quitten werden zum Teil einer aktiven Landschaftspflege
Was als kleines und privates Projekt begann hat inzwischen ökologische und gesellschaftliche Relevanz in der Region bekommen. Denn längst sind die Quitten von Müller und Stadler hier Teil einer aktiven Landschaftspflege und -gestaltung geworden.
So übernahmen sie 2012 die Pflege einer 10.000 Quadratmeter großen Ausgleichsfläche der Stadt Weinheim. Sogenannte Ausgleichflächen müssen gemäß Bundesnaturschutzgesetz von Bauherren geschaffen werden, denn zu bauen, bedeutet in die Natur einzugreifen. Und so entstand eine Streuobstwiese mit hier typischen Kulturpflanzen, wie Mandeln, Kirschen, Birnen, Aprikosen, Äpfeln und eben Quitten.
2016 nahmen sie sich einer verwilderten Fläche in Hemsbach an, auf der seit Jahren illegal Müll entsorgt wurde. Es wurden alte Bäume gefällt, Brombeerbüsche gerodet und fast eine Tonne Müll entsorgt. Dann wurde Gras gesät und es wurden Bäume gepflanzt. Heute stehen sechzig Quitten auf der einstigen inoffiziellen Müllkippe.
Seit 2017 unterstützen sie das ILEK-Projekt „Blühende Bergstraße“ durch Pflanzungen von Quitten. ILEK steht für „Integriertes ländliches Entwicklungskonzept“. Das Projekt an der Bergstraße wurde 2010 von den Städten und Gemeinden Laudenbach, Hemsbach, Weinheim, Hirschberg, Schriesheim und Dossenheim ins Leben gerufen, um die langsam schwindende Kulturlandschaft der Bergstraße zu erhalten und zu entwickeln. Heute ist der Verein „Blühende Bergstraße“ der Träger dieser Initiative.
Während wir so reden und ich einige Fotos schieße, schreitet die Zeit unaufhaltsam voran. Wir müssen zurück auf den Hof, den um 14:00 Uhr beginnt wie jeden Donnerstag während der Saison die Quittenannahme in der Hintergasse.
Ein Service, der zum Erhalt der Quitte beiträgt
Tatsächlich steht auch schon die erste Kiste mit Quitten vor dem Tor als wir den Hof erreichen. Dann geht es Ratzfatz. Drei Anlieferer geben sich die Klinke in die Hand. Knochenarbeit ist angesagt. Quitten werden unter nachbarschaftlichem Gebabbel entgegengenommen, umgefüllt, gewogen, berechnet und bezahlt. Aber alles mit Vorsicht, denn die Quitten sind ja bekanntlich Sensibelchen und können mit Druck gar nicht gut umgehen.
Dass die Quitte schwierig zu verarbeiten ist, habe ich ja bereits geschrieben. Und deshalb wird dieser Prozess den Eignern von Quittenbäumen abgenommen und sie bekommen sozusagen Bares für Rares und zwar deutlich mehr als für Äpfel in Keltereien. Trotzdem machen die Beträge sicherlich nicht reich, schaffen aber einen guten Anreiz, die Quitten im eigenen Garten zu erhalten. Und darum geht es hier ja schließlich.
Nach etwa einer Stunde ebbt die Quittenflut ab, obwohl noch bis in die frühen Abendstunden die Annahme geöffnet ist. Das ist immer so, sagt Rainer Stadler. Alle kommen so früh es geht, auf einmal und dann ist Ruhe.
Die angenommenen Quitte, genau wie die aus der eigenen Ernte, werden anschließend inhouse oder in Kooperationen verarbeitet und anschließend auf verschiedenen Wegen verkauft.
„Machenschaften“ aus Quitte
Während draußen noch Kisten hin und her getragen werden, sehe ich mich im Laden um. Eindrucksvoll ist der raumbeherrschende alte Apothekerschrank, aber auch die Produktvielfalt überrascht. Ich darf auch probieren und vergleichen. Das allseits bekannte Quittengelee schmeckt, aber der samtige Brotaufstrich, eine Eigenkreation von Ellen Müller, schmeckt viel besser – jedenfalls mir. Die Quittenschorle namens Qwix ohne Zuckerzusatz ist eine echte erfrischende Entdeckung. Und wenn die Käse dieser Welt den hausgemachten Quittensenf kennen würden, ja dann …
Wie auch immer. Was mich einfach wirklich begeistert, ist das perfekte Spiel zwischen Süße und Säure dieser Produkte aus Quitte. Überhaupt ist super, dass alles nicht so pappsüß ist, denn das ist überhaupt nix für mich. Nie gewesen, nicht mal als Kind. Kurz: mehr Quitte braucht das Land.
Diese frei von Konservierungsstoffen hergestellten Produkte sind nicht nur leckere Botschafter der Quitte, sie tragen natürlich auch zur Finanzierung des nebenberuflichen Projektes in Sulzbach bei, das aber inzwischen die Zeit und das Engagement eines Hauptberufes von den Betreibern fordert.
Wie draußen auf den Streuobstwiesen müssen sich die beiden Quereinsteiger auch in der Küche jeden Schritt selbst erarbeiten und anfangs so manchen Misserfolg verkraften, wenn Neues entwickelt wird. Aber auch hier bleiben sie dran und mittlerweile sind ihre Produkte nicht nur im eigenen Hofladen und auf verschiedenen Märkten erhältlich, sondern auch online. Überhaupt stoßen ihre „Machenschaften aus Quitte“ auf überregionales Interesse. Zeitschriften wie „Der Feinschmecker“ oder „Effilee“ haben längst berichtet und als Unterstützer von Slow Food sowie über das JRE Genussnetz tragen sie ihre Ideen und Produkte aussagekräftig in die Welt.
Das alles besprechen wir draußen in der Sonne bei einem Fläschchen Qwix, das und noch viel mehr. Aber dann dringt der für mich unhörbare Ruf der Quitten an die Ohren meiner Gesprächspartner. Die gelben Früchtchen wollen geerntet und verarbeitet werden, wollen dass man sich um sie kümmert. Anders ausgedrückt: Die Arbeit ruft. Also Zeit für mich aufzubrechen. Ich beschließe, nicht auf der Autobahn zurückzufahren, sondern auf der B3 – von Ort zu Ort, am westlichen Fuße des Odenwaldes an der Bergstraße, ob nun badisch oder hessisch. Und hinter mir zurück bleiben die goldenen Äpfel aus Sulzbach und die beiden, die sie zukunftsfähig machen wollen. Ellen Müller und Rainer Stadler.
Fotografie: Thomas Hobein
(Auf der Rückfahrt entlang der Bergstraße u. a. gehört: „Ventura Highway“ von America)